HUNGRY BABIES: Spielarten des performativen Musikvideos

MQ Hof 8

MQ Arena 21

Eintritt frei

 

In Anwesenheit von Jessica Manstetten (Kuratorin)

Das Performance-Video ist die Königsdisziplin des Genres. Den musikalischen Mainstream beherrschen in erster Linie reizlos choreographierte Arbeiten in Hochglanz-Settings ohne Zwischentöne oder Zufälligkeiten. Doch das Performance-Video kann so viel mehr sein: Manifest, Anklage, Aufbegehren. Suche, Selbstermächtigung gegen Erwartungshaltungen und Repräsentationsschablonen, gegen sichtbare und unsichtbare Erscheinungsformen von Gewalt, gegen binäre Kodierungen von Körper, Geschlecht und Identität. Die befreiende Kraft liegt hier in der Einfachheit der Inszenierung, die Ausdrucksformen für gesellschaftliche und subjektive Stimmungen schafft. Performance als Spiel zwischen dem, was ist, und was wir uns vorstellen, zwischen Körper und Raum, zwischen Bild und Musik. Ritual, Rhythmus, Repetition. Ein Streifzug durch die 2000er Jahre mit 15 Videoarbeiten von 2003 bis 2021 - subversiv, explosiv, verwundbar, verspielt.

The One (Sandra Hüller)
Leopold Emmen (Nanouk Leopold and Daan Emmen), Niederlande, 2020, 2’24’’

 

Es hat etwas seltsam Heroisches, wie die Figur in dieser Szene versucht, in dem leeren Raum ihren Platz und die passende Pose zu finden. Der Wunsch, sich die Situation zurechtzubiegen und die Kontrolle zurückzugewinnen, war ein Gefühl, das auch im Song sehr präsent war. Wenn man zulässt, dass man selbst auf den Kopf gestellt wird, kann das zu einer wunderschönen Entdeckung führen.

 

Convenient, Sacred, Blessed (Maud)
Vika Kirchenbauer, Deutschland 2015, 3’30’’

 

Sehen wir da eine Sportmassage, ein Aufbau-Ritual, die Darstellung körperlicher Misshandlung oder eine Beschreibung von Zärtlichkeit, bei der Gesten wie selbstverständlich für emotionale Tiefe stehen? Das Video ist ziemlich vage, genauso wie die Charaktere darin.

 

Fool (FrontMan)
Juliana Oliveira, DE 2021 3'42"

 

Keine Angst vor dem Sprung ins kalte Wasser. „FOOL": das erste Musikvideo in der über 50-jährigen Bandgeschichte der legendären FrontMan. Die „Godfathers of Rock'n'Roll" bleiben ihrer Unberechenbarkeit weiterhin treu und beweisen einmal mehr, dass sie gerne große Wellen schlagen. Haltet die Luft an!

 

Hungry Baby (Kim Gordon)
Clara Balzary, USA, 2021, 5’41’’

 

Hungry Baby zeigt Wege auf, wie Frauen unter der Last des Patriarchats emotionalen und physischen Raum einnehmen können. Balzary drehte auf einem menschenleeren Parkplatz, der das Gefühl von Angst vermittelt. Vor dieser menschenleeren Kulisse lässt Coco Gordon-Moore ihrer angesammelten Wut freien Lauf, übernimmt die Kontrolle und entlässt uns mit einem lebensbejahenden Gefühl.

 

Portadoras queer: el doble y la repetición (Ascii.Disko)
Ana Laura Aláez, USA/Japan/Spanien, 2020, 15’39’’

 

Das Video erforscht verschiedene Grade von Aufsässigkeit in einer Darstellung vielfacher Weiblichkeit. Ein umgekehrtes Musikvideo, bei dem der Klang vom elektronischen Musikprojekt Ascii.Disko zu den Bildern geschaffen wurde. Die Figuren im Video sind Träger nichtbinärer Identitäten in ständiger Bewegung. Jede von ihnen agiert als zeitgenössischer Demiurg: auf der Suche nach ihren persönlichen Ausdrucksformen, ganz gleich, wie oft sie bei dem Versuch, sich selbst zu erschaffen, fallen.

 

Hood (Perfume Genius)
Winston H. Case, USA 2012, 2’

 

Der 2013 verstorbene ungarische Pornodarsteller Arpad Miklos kümmert sich liebevoll um das Erscheinungsbild von Mike Hadreas a.k.a. Perfume Genius, während dieser in die Kamera singt. Der optische Gegensatz des Paares besticht, wie die Zärtlichkeit ihrer Gesten. Die Masquerade legt Schichten frei.

 

Trying to Forget You (Aérea Negrot)
Aérea Negrot, Simon*e Pateau, Deutschland 2019, 7’56‘‘

 

Ein Anruf, und wenige Stunden später fand der Videodreh in Berlin statt. Mitten in der Nacht findet eine Enttäuschte Musik in den Armen schöner Fremder. Eine Arbeit, die zwischen Schönheit und konfrontativer Energie balanciert, instinktiv und humorvoll.

 

Relay Runner (Loma)
Emily Cross, Allison Beondé, USA 2018, 5’50’’

 

In der Wüste von Monahans in Texas konstruiert Emily Cross, Sängerin von Loma, einen mentalen Hindernislauf aus Baumarkt-Materialien, den sie meisterhaft beendet. An jeder Station übergibt sie eine Version ihrer selbst an die nächste Version.

 

Nigga Needs (Boogie)
Gina Gammell, Riley Keough, USA 2016, 3’

 

Eine intensive Meditation über die Natur der Performance und des Publikums. In einem weißen Museumsraum rappen zwei angeschlagene Miniatur-Boogies auf weißen Sockeln vor einem weißen, älteren Museumspublikum. Die mehrfache „ silent whiteness“ umkreist das buchstäbliche Exponiert-Sein des Rappers.

 

This is England (Farai)
TONE, UK 2018, 3’13‘‘

 

Gedreht in Schwarzweiß, als Spiegelung der Gefühle in den demoralisierenden Zeiten der Sparpolitik, wo die Welt eingeteilt wird in Schwarz und Weiß, in Extreme, polarisierende Gegensätze, gut, böse, immer, nie, Hoffnung und Furcht.

 

Voodoo in My Blood (Massive Attack feat. Young Fathers)
Ringan Ledwidge, GB 2016, 5‘20‘‘

 

Angelehnt an die U-Bahn-Szene aus „Possession“, dem Horrorfilmklassiker von Andrzej Żuławski hat Rosamund Pike hier eine unheimlich Begegnung der dritten Art. Eine schwebende Kugel erlangt die Kontrolle über ihren Körper und bringt eine furios performende Pike an ihre Grenzen.

 

Animals (Oneohtrix Point Never)
Rick Alverson, GB 2016, 4’

 

Die erste Arbeit einer Serie für das Hammer Museum „Ecco: The Videos of Oneohtrix Point Never and Related Works“ zeigt Val Kilmer in ungewohntem Setting. Die Kamera umkreist ein Schlafzimmer, in dem der Hollywoodschauspieler mit geschlossenen Augen auf einem Bett sitzt und „Animals“ hört. Oder schläft? Mensch und Raum scheinen zwei unterschiedlichen Zeitzonen entsprungen zu sein, und die Einzelbildtechnik bringt Kilmer zum Flimmern.

 

Corporate Cannibal (Grace Jones)
Nick Hooker, USA 2008, 6’

 

Jones löst sich von der Schwerkraft ihres immer schon als „schwarz“ und „androgyn“ markierten Körpers. In einem scharfen schwarz-weiss Kontrast wird die Physis der Musikerin hier als eine quecksilberne Materie vorgestellt, schillernd und zähflüssig. In fließender Bewegung werden Kopf und Oberkörper moduliert, und Jones genießt uns dabei auf ihrem Teller.

Jessica Manstetten ist Filmwissenschaftlerin und Kulturarbeiterin. Leiterin der Programmsektion MuVi bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen. Derzeit in der Auswahlkommission beim Internationalen Frauen*Film Fest Dortmund+Köln und beim Kasseler Dokfest. Musikvideo- und Kurzfilmprogramme für Festivals und Institutionen, u.a. Kurzfilmfestival Uppsala, Impakt Festival Utrecht, HEK Basel, donaufestival Krems, Stuttgarter Filmwinter, Vienna Independent Shorts. Mitherausgeberin von "after youtube - Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet" (Strzelecki Books, Köln). Gastseminare an der Universität Paderborn und an der Ruhr-Uni-Bochum. Mitbegründerin der "KinoEulen", die regelmäßig Kurzfilmprogramme für Kinder in Essen zeigen.