Film Review: Alexandre Rockwell's SWEET THING (2020)

„My brother and I were saving up for Christmas. Our father was Santa outside the bus depot. He said he was gonna get us a tree.“, eröffnet die Stimme einer jungen Frau aus dem Off den Film.

Aus der Perspektive von Billie entfaltet sich eine Geschichte, die vom Gefangensein in verschiedenen Formen der Gewalt erzählt und zu einem einfühlsamen Portrait über die ungebrochene Resilienz eines jungen Geschwisterpaares wird.

Adam, der Vater von Billie und ihrem jüngeren Bruder Nico, bewegt sich in seinem Alltag in einem Spannungsverhältnis aus Zärtlichkeit und Tyrannei. Die Liebe und Zuneigung für seine Kinder sind deutlich spürbar, werden jedoch zunehmend von seiner Alkoholsucht überschattet. Bis zu dem Moment, in dem die beiden Kinder den Wohnort wechseln müssen und einen Sommer bei ihrer desinteressierten Mutter Eve im Strandhaus ihres gewalttätigen Partners verbringen.
Zunächst noch von einer ruhigen und charakternahen Kameraarbeit geprägt, gewinnt der Film mit dem Erscheinen von Eve an Geschwindigkeit und die Kamera an Distanz zu Billie. Die intimen Close-Ups werden weniger: die Nähe und Zärtlichkeit, die davor noch bruchstückhaft ein Teil von Billies Alltag waren, verschwinden.

In monochromem Schwarz-Weiß manövriert sie sich und ihren Bruder durch die wechselnden Ausprägungen von Abhängigkeit. Die Graustufen werden nur dann von blassen Farben durchzogen, wenn Billie Zuflucht in der Musik ihrer Namensvetterin Billie Holiday sucht. Abgesehen von Billie selbst, repräsentiert die einfühlsam singende Stimme die einzige Form von mütterlicher Fürsorge und Beständigkeit.
Als die Geschwister eines Abends am Strand den gleichaltrigen Malik treffen, scheint die Welt noch nie dagewesene Möglichkeiten zu offenbaren. Ein Zwischenfall lässt die drei notgedrungen aus ihrem Alltag ausbrechen und nach Florida fliehen. Es beginnt eine Reise ins Ungewisse, die Billie, Nico und Malik zu „outlaws and renegates“ werden lässt – inklusive Zigarette rauchender Billie Holiday auf der Rückbank eines gestohlenen Autos.

 

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SWEET THING macht nur kurz den Anschein, eine nostalgische Geschichte über jugendliche Träume zu sein. Nach und nach wird klar, dass dieser Film vor allem eine Geschichte über Abwesenheiten ist: das Fehlen von Sicherheit und Geborgenheit, keine Klarheit über Ort und Zeit, die Unmöglichkeit, einfach nur Kind zu sein.
In seltenen Momenten werden diese Abwesenheiten zu Anwesenheiten, sofort erkennbar durch kurze Phasen von sanftem Technicolor. Wenn Billie Holiday durch ihre Musik zärtlich zu der jungen Frau spricht, taucht Billies Zimmer in blasse und traumhafte Farben. Eine Tönung, die sich in Momenten des Abtauchens und Loslassens über das sonst einfarbige Bild legt.

Nach dem Zusammentreffen mit dem gleichaltrigen Malik gestaltet sich der Film zu einem Roadmovie Richtung Unabhängigkeit – dem Urtraum aller Coming-of-Age Geschichten. Malik wird zur Manifestation von Billies Sehnsüchten; er wird zur Möglichkeit, ihrem erdrückenden Umfeld zu entkommen. Eine Befreiung, begleitet von der Angst, dass Malik genau wie Billie Holiday nicht echt ist und nur ein von Billie erschaffener Mechanismus, um aus der Realität zu entkommen. Doch wie alles in SWEET THING ist auch die Flucht der drei fest verhaftet in einer schonungslosen Realität, der auch Malik nicht entkommt.


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Raum und Zeit sind nur schwer greifbar in Rockwells Film, sollen nicht mehr als vage Vermutungen sein. Ein namenloser Ort in den USA scheint zwischen Schnee und Meer und in einer Zeit ohne Handys stehen geblieben zu sein. Die Unklarheit in Bezug auf Ort und Zeit lässt Raum für Identifikationsmöglichkeiten und auch dafür, Billies Geschichte nicht als Einzelfall zu betrachten. Ihre Geschichte erscheint stellvertretend für jene vieler junger Frauen*, deren Erfahrungen in einer Verstrickung aus komplexen Machtstrukturen geformt werden.

So fluide und vage der Film einerseits bleiben mag, so viel subtile Genauigkeit weist er andererseits auf. Billie und Nico bewegen sich in einem prekären Raum, geprägt von strukturellen Formen von Macht und Ohnmacht. Race, Class und Gender werden zu vorherrschenden Komponenten der Geschichte. Ohne, dass der Film diese explizit benennen muss, rücken sie durch aussagekräftige Details und gut gezeichnete Charaktere in den Vordergrund. Racial identity innerhalb einer US-amerikanischen mixed race Familie, sowie geschlechtsspezifische Gewalt sind sichtbar, ohne verbal thematisiert zu werden. Der Film gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit und Raffinesse und verortet die Protagonist_innen trotz zeitloser schwarz-weiß Optik in einer komplexen Abbildung der USA.

Einen wichtigen Bezugspunkt stellen dabei im Film die Haare der Charaktere dar. Sie sind bewusst inszenierte Marker von Identität und der Kontrolle dieser. Zu erkennen vor allem in der schmerzhaften Szene, in der Adam Billie die langen Locken abschneidet — laut Rockwell der aggressive Versuch eines Vaters, sowohl die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit seiner Tochter als auch deren Identifizierung mit ihrer Mutter zu brechen. Nachdem Billies Haare brutal geschnitten werden, schneidet sich auch Nico seine Haare ab. Es ist der Moment, in dem Nico an Handlungsfähigkeit und Anteilnahme gewinnt und der Geschwisterliebe eine neue Form verleiht.

 

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Eine weitere Komponente die Rockwell – als weißem Filmemacher – im Film gelungen ist, ist der Verzicht auf die Darstellung Schwarzer Männer in einer Täterrolle, die so oft bedient wird. Bedacht darauf, hinsichtlich race eine Familienkonstellation zu wählen, zu der Regisseur und Schauspieler_innen persönlichen Bezug haben, gelingt eine facettenreiche Darstellung der Charaktere. Denn Filmemacher Alexandre Rockwell, der seit den 80er Jahren Independent Filme dreht und mit Filmen wie IN THE SOUP (1992) und FOUR ROOMS (1995) in den 90er Jahren internationale Bekanntheit erlangte, lässt für SWEET THING seine eigenen Kinder und deren Mutter in die Rollen der dysfunktionalen Familie schlüpfen. Nach LITTLE FEET (2014) ist es der zweite Film, den Alexandre Rockwell mit seiner Tochter Lana Rockwell und seinem Sohn Nico Rockwell in den Hauptrollen dreht.

SWEET THING kann als Anschlussfilm an LITTLE FEET verstanden werden – damals war der Filmemacher noch selbst in der Rolle des vernachlässigenden Vaters zu sehen. LITTLE FEET bleibt jedoch trotz der schweren Thematik verspielter und experimenteller und lässt wesentlich mehr Raum für die kindliche Wahrnehmung seiner noch jüngeren Charaktere. Doch wenn Nico in LITTLE FEET zu seiner Schwester „I Love You Lana. With my brains and my heart“ sagt, hallt dieser Satz in SWEET THING nach und es wird deutlich, wie lange Billie (in LITTLE FEET noch Lana) schon die Verantwortung für ihren Bruder und sich selbst hat. In Kombination ergeben die Filme ein gekonntes Zusammenspiel, das den Charakteren und ihren Beziehungen zueinander noch mehr emotionale Vielfalt verleiht und das Kernthema beider Filme untermalt: die Widerstandskraft eines Geschwisterpaars.

 

Lisa Heuschober ist Kuratorin bei frame[o]ut Open Air Cinema, Künstlerische Leitung von this human world - International Human Rights Film Festival und Teil des Kernteams von YOUKI - International Youth Media Festival. Als Kuratorin und Kulturarbeiterin gestaltet sie Filmprogramme und Diskussionsformate, die sich der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen widmen und einen Fokus auf queer-feministische sowie postkoloniale Ansätze legen. Mit einem Hintergrund in der Kinder- und Jugendarbeit liegt ihr persönliches Interesse vor allem bei jungem Filmschaffen und Filmen, die sich jugendrelevanten Themen nähern.

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